#Genderhealthgap - Die Diskriminierung und Marginalisierung unseres Gesundheitssystems ist real!

 
 
 
 
 

Wir alle haben das #genderhealthgap schon zu spüren bekommen

Es ist ein paar Jahre her, dass ich das erste Mal unmittelbaren Kontakt mit der Problematik hatte, um die es in diesem Beitrag heute geht. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es dafür einen Namen gibt. Ich war Anfang 20 und hatte die Hausarztpraxis in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, noch nicht allzu oft besuchen müssen. Doch als ich die stechenden Schmerzen in der unteren Bauchgegend nach mehreren quälenden Tagen im Büro nicht mehr ignorieren konnte, machte ich einen Termin in der Praxis aus. 

Mein Hausarzt war vor kurzem aus der Praxis ausgetreten, sodass ich keine spezifischen Wünsche hatte, von wem ich untersucht werden würde. Ich betrat das Behandlungszimmer und es dauerte keine fünf Minuten, bis ich mich noch unwohler fühlte als zuvor. 

Der mir fremde Mann im weißen Kittel fragte mich, noch bevor er meinen Bauch überhaupt abtastete oder tiefergehende Fragen stellte, ob mein Chef denn böse gewesen sei – implizierend ich wäre nur für eine Krankschreibung gekommen. Gerade als ich seine Frage verneinen wollte, fiel er mir ins Wort und fügte hinzu „Oder haben Sie vielleicht Liebeskummer?“

    Ich schmunzelte verlegen. Nicht weil es stimmte, was er sagte und auch nicht, weil mir danach war; Ich schmunzelte, weil ich nicht wusste, was ich anderes tun sollte.
 

Ich wollte nicht unfreundlich sein und verneinte erneut mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen. An diesem Tag ging ich ohne weitere Untersuchungen und mit der Empfehlung mich auszuruhen nach Hause. 

Zwei Tage später war ich ohne Besserung zurück in der Praxis, diesmal bei einem anderen Arzt. 

Ich wurde abgetastet, bekam aber wieder keine Diagnose. Inzwischen konnte ich kein Essen mehr bei mir behalten und krümmte mich beim Gehen vor Schmerzen.

Beim dritten Arztbesuch bekam ich dann nach eindringlichem Bitten eine Überweisung für das Krankenhaus, für den Fall es würde über das Wochenende noch schlimmer werden. Und das wurde es. 

Um vier Uhr nachts fuhr mich mein Freund zum naheliegenden Krankenhaus, in welchem ich 5 Tage verbrachte. Eine eindeutige Diagnose bekam ich auch nach einigen Untersuchungen nicht. Aber ich hatte Glück, meine Beschwerden verschwanden nach einigen Tagen am Tropf und ohne feste Nahrung.

Wir sind damit nicht alleine - Diskriminierung im Gesundheitssystem wird von vielen vor allem weiblich gelesenen Menschen erlebt

Erst Jahre später, als mir Freundinnen von ähnlichen Erfahrungen erzählten, in welchen sie sich von ihrem Arzt oder ihrer Ärztin nicht ernst genommen fühlten, erkannte ich ein Muster. Keine meiner männlichen Bekannten hatte mir je eine ähnliche Geschichte erzählt. 

Als ich dann online über den Begriff „Gender Health Gap“ gestoßen bin, habe ich begriffen, dass das keine vereinzelten Erfahrungen sind, sondern das Resultat eines patriarchalen Gesundheitssystems, das auf einer cis-männlichen Normativität basiert.

 
 

    Medizin und das Gesundheitswesen sind die Kunst, die Geheimnisse des menschlichen Körpers zu lösen. Daher wird von ihr als Wissenschaft erwartet, dass sie den Grundsätzen der Unparteilichkeit folgt. Patient:innen wollen, dass ihr:e Ärzt:in ihnen unvoreingenommen zuhört. Aber hier werden die Dinge kompliziert.

 

Der Ursprung der Misogynie im Gesundheitssystem liegt in der Antike

Die Medizin hat in der Vergangenheit sehr hartnäckig biologische mit soziokulturellen Faktoren vermischt. Das heißt, über Jahrhunderte hinweg war das medizinische Wissen über die als weiblich gelesenen Organe und Systeme mit patriarchalischen und androzentrischen Vorstellungen von Weiblichkeit behaftet. 

Die Prinzipien des männlichen Körpers als menschliche Norm wurden im antiken Griechenland festgelegt. Der Körper von Frauen wurde damals nämlich als eine verstümmelte Version des männlichen Körpers gesehen. Frauen wurden durch ihre anatomischen Unterschiede zum Mann charakterisiert und medizinisch als fehlerhaft bezeichnet.

Doch auf der anderen Seite besaßen Menschen mit Uterus auch das Organ von höchstem biologischem und sozialem Wert. 

    Die Gebärmutter definierte somit den Zweck des Frauseins: Das Gebären von Kindern.
 

Die Medizin rechtfertigte diese sozialen Bestimmungen, indem sie den Mythos konstruierte, dass Frauen durch ihre Biologie gesteuert, ja sogar besessen seien. 

Gynäkologische Krankheiten wurden stets auf die "Geheimnisse" der Gebärmutter zurückgeführt. Mediziner behandelten "hungrige" Gebärmütter mit einer Verordnung für regelmäßigen Geschlechtsverkehr mit den (meist viel älteren) Ehemännern der Frauen und dem Gebären von Kindern. Die "unerfüllte" und "arbeitslose" Gebärmutter löste sich von ihrem gewohnten Platz und wanderte im Körper umher, verursachte eine Reihe von Symptomen und machte Körper und Geist der Besitzer:in krank. 

Da die Theorien besagten, dass die Fortpflanzungsorgane der Frauen ihre gesamte Energie verbrauchten und nichts für ihr Gehirn übrig blieb, waren sie von Natur aus anfällig für Nervenleiden wie die berühmte „Hysterie“. 

Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich diese zu einer allumfassenden Diagnose für Menschen mit Uterus.

  • Es gab keine definierte Klassifizierung für Hysterie, keinen gesicherten diagnostischen Nachweis. Die Symptome reichten von Kurzatmigkeit bis zu Ohnmacht, Schlaflosigkeit oder Wassereinlagerungen, aber irgendwann wurden auch lautes Lachen oder Augenrollen zu den Symptomen der Hysterie gezählt. Demnach muss ich auf jeden Fall hysterisch sein, denn meine Augen hörten gar nicht mehr auf zu rollen, seit ich mit dieser Recherche begonnen habe.
 

Im Gegensatz zu Hippokrates, der glaubte, dass die Gebärmutter alle Beschwerden der Frauen verursachte, sah Sigmund Freud, als die Psychologie in den späten 1800er Jahren aufkam, hysterische Symptome eher als körperlichen Ausdruck psychischer Konflikte. Also in kurz: Es ist alles nur im Kopf. Symptome wie "depressive Gemüter" und "Unruhe" wurden häufig als Ursache der Schmerzen und nicht als deren Folge angesehen. 

Doch in den nächsten Jahrzehnten wurden die Stimmen der Frauen in der Medizin lauter und die Technik besser. Viele zuvor rätselhafte Krankheiten wurden genauer diagnostiziert. Feminist:innen begannen, den Sexismus in der Medizin zu bekämpfen – einschließlich der Tatsache, dass Menschen mit Zyklus bis in die 1990er Jahre routinemäßig von der medizinischen Forschung ausgeschlossen waren (und teilweise noch immer werden). 

Die Begründung dafür ist, dass die Hormone zu stark schwanken und die Beständigkeit der Ergebnisse beeinträchtigen würden. Mit diesen Argumenten bekräftigt die Medizin den uralten Mythos, dass Frauen biologisch zu unberechenbar sind, um nützlich oder wertvoll zu sein. 

    Das Vernachlässigen der Forschung an allen Körpern, die nicht cis-männlich sind, führte zu einer biologischen Wissenslücke bei Ärzten und Ärztinnen, die neben derer sozialen Vertrauenslücke Frauen, aber auch z. B. intersex* oder trans* Personen den Weg zur Erklärung ihrer Schmerzen erschwert.
 

Hysterie und andere Diskriminierungen 

Während die Hysterie aus der medizinischen Literatur verschwand, blieb das Bild der zu emotionalen Patientin und die Überzeugung, dass sich Frauen ihre Schmerzen nur einbilden, bestehen. 

    Auch heute noch warten sie jahrelang auf die Diagnose von Erkrankungen wie Endometriose oder Autoimmunerkrankungen. Medizinische Studien zeigen, dass Ärzt:innen die Symptome von Männern eher als körperliche oder biologische Symptome und die von Frauen als emotionale oder psychosoziale Symptome interpretieren. Letztere werden auch seltener zu weiteren diagnostischen Tests überwiesen. Daten zu gender-diversen Gruppen gibt es außerdem kaum.
 

Entgegen der Annahme der hypochondrischen und irrationalen Patientin geben viele Frauen ihre Symptome tatsächlich eher zu selten an. Wenn sie sich bei einem Arztbesuch nicht ernst genommen fühlen, bekommen sie den Eindruck, dass das, was sie durchmachen, nicht ernst ist. 

So ging es auch mir als mir mein vermeintlicher „Liebeskummer“ einige Wochen schreckliche Schmerzen und einen Krankenhausaufenthalt bescherte. In meinem Fall ging zum Glück alles gut aus. 

Allerdings können sich solche Vorfälle auch bei viel ernsteren Erkrankungen ereignen, wie z. B. einem Herzinfarkt.

  • Denn obwohl der Herzinfarkt bei Männern viel öfter vorkommt, ist die Sterblichkeitsrate bei Frauen tatsächlich um ein Drittel höher. Grund dafür sind sogenannte atypische Symptome (also andere als die, die der Mann hat) und weil man die Frau eben oft nicht ernst nimmt.
 

Was wir tun können - Eine Aufforderung zum Aktionismus und Community bilden

Wenn die androzentrische Medizin heute Frauen und weiblich gelesenen Personen verleumdet, ignoriert, herabsetzt und untergräbt, greift sie bewusst oder unbewusst auf historische Vorstellungen von Körper und Geist von Frauen zurück, die zur Aufrechterhaltung des patriarchalen Status quo erfunden wurden. Auch wenn medizinische Fachkräfte im Allgemeinen nicht die Absicht haben, einige Menschen schlechter als andere zu behandeln, können nicht hinterfragte Vorurteile und Wissenslücken schreckliche Schäden verursachen. Das gilt übrigens auch für rassistisches und homophobes Gedankengut in der Medizin, was jeweils einen ganz eigenen Artikel verdient hätte.

    Das Ignorieren dessen, was Menschen mit Uterus und weiblich gelesene Personen zu sagen haben, ist ein Problem, das so alt ist wie die Medizin selbst. Unser Leben hängt davon ab, dass die Medizin lernt zuzuhören, aber auch davon, dass wir selbst unser Recht zu sprechen einfordern.
 

 
 

Mit dem Projekt missunderstood bodies möchte ich dazu beitragen Krankheits-, Diagnose- und Schmerzerfahrungen aufzudecken. Es geht darum, den Menschen zuzuhören und sie dazu zu empowern, ihre Geschichten zu erzählen. In einem kollaborativen Prozess werden die Erfahrungen ihrer Schmerzgeschichten gesammelt und manche davon in eine visuelle Sprache umgewandelt und in illustrierten Kurzfilmen erzählt. Je mehr Personen ihre Geschichten teilen, desto mehr werden Tabus, Stereotypen und Vorurteile abgebaut, die uns daran hindern, die Hilfe zu bekommen, die wir verdienen.

Du möchtest deine Geschichte teilen? Dann trete unbedingt mit mir in Kontakt über jumaier@unibz.it oder dem Instagram-Kanal @missunderstood_bodies.

 

Ich freue mich von euch und euren Erfahrungen zu hören!

Eure Julia

Quellen:

Criado Perez, C. (2020). Unsichtbare Frauen – Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der ­Bevölkerung ignoriert (Vol. 7)

Cleghorn, E. (2021). Unwell Women – A Journey Through Medicine and Myth in a Man-Made World.

Beguez, A. (2018). The Dark History of Hysteria. The Nib

Learmonth, I. (2020). The Gender Health Gap: Why Women's Bodies Shouldn't Be a Medical Mystery. Thred.

 
 

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